Schlangestehen im Morgengrauen, massenhafte Absagen, Verzicht auf Vorsorge: Wie der Ärztemangel das Land quält
Am ersten Tag standen um 7.30 Uhr bereits so viele Menschen in der Schlange auf dem Demiani-Platz in Görlitz, dass Jan Fackelmann gleich wieder umkehrte. Am zweiten Tag war er um 4.45 Uhr zur Stelle, mit Hocker, einer Kanne Tee und seinem E-Reader. Nein, Fackelmann war nicht mitten in der Nacht aufgewacht, um eine Tafel der heiß begehrten Dubai-Schokolade zu ergattern. Am Telefon erzählt er einige Zeit später, dass er die frühmorgendliche Warterei bloß deshalb auf sich genommen habe, um in die Patientenkartei einer neuen Hausarztpraxis aufgenommen zu werden. Eigentlich ein ganz normaler Vorgang.
In Deutschland gibt es viel zu wenig Ärzte. Nach Schätzungen des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung werden von 2022 bis 2040 insgesamt rund 50.000 Ärztinnen und Ärzte quer durch alle Fachgebiete fehlen. Bereits heute wird in vielen Regionen die medizinische Grundversorgung knapp. Wer nicht privat versichert ist, wartet immer häufiger monatelang auf Termine, wird von Praxis zu Praxis geschickt.

Dabei steigt die Zahl der praktizierenden Ärzte von Jahr zu Jahr. Wie passt das zusammen?
Jan Fackelmann, der tapfere Ansteher in Görlitz, ist Anfang dreißig und Basssänger am Theater der Stadt. Als er aus Dresden herzog, sei die Hausarztsuche zur Herausforderung geworden. Wenn er krank wurde, also so richtig krank, nicht bloß ein Schnupfen, fuhr er meistens hundert Kilometer zu seiner alten Hausärztin nach Dresden, erzählt er. Vergangenen September eröffnete dann eine neue Hausärztin eine Praxis in der Innenstadt. Als Fackelmann am zweiten Tag erneut versuchte, eine der begehrten Platzkarten der Praxis zu bekommen, hatte er nach drei Stunden in der Schlange schließlich Erfolg. Dennoch erhielt er erst nach einer Art Bewerbungsgespräch zwei Wochen später die Zusage der Ärztin, ihn als Patienten aufzunehmen.
Vor einigen Jahrzehnten war eine solche Notlage in Deutschland unvorstellbar. In den 1980er-Jahren gab es eher zu viele als zu wenige Ärzte. Seit 20 Jahren hingegen sieht die Bundesärztekammer die Überalterung der deutschen Mediziner und zugleich ein Nachwuchsproblem auf sich zukommen.
Ein Grund ist, dass Ärzte weniger arbeiten als früher. Die wöchentlichen Arbeitsstunden haben zwischen 2012 und 2018 im Schnitt um 5 Stunden und 18 Minuten abgenommen. Auch regelt ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs seit dem Jahr 2003 die Arbeitszeit neu. War es zuvor durchaus üblich, dass Ärzte über 30 Stunden am Stück inklusive Bereitschaft arbeiteten, soll heute eigentlich nach maximal 24 Stunden Schluss sein. Und es gilt: Bereitschaftsdienst ist Arbeitszeit. In vielen Kliniken werden heute drei Ärzte für die Arbeit benötigt, die früher zwei leisteten. Die Folge: Es arbeiten mehr Ärzte in Kliniken, womit weniger Ärzte für die Praxen bleiben. Der Mangel an Studienplätzen verschärft die Lage noch weiter. »Wir haben 50.000 Ärztinnen und Ärzte in den letzten Jahren nicht ausgebildet«, bilanzierte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach im vergangenen Jahr.
Um Beruf und Familie vereinbaren zu können, arbeiten heute zudem mehr Ärzte in Teilzeit. Unter männlichen Medizinern sind es laut der AOK 14 Prozent, unter Frauen 42 Prozent. Und das dürfte erst der Anfang sein: Inzwischen sind knapp zwei Drittel aller angehenden Mediziner in Deutschland Frauen.
Auch der demografische Wandel verschlimmert das Problem. Nicht nur braucht eine alternde Bevölkerung mehr Ärzte. Es gehen auch immer mehr Ärzte selbst in Rente. 2023 war mehr als ein Drittel der Hausärzte in Deutschland über 60 Jahre alt. 5.000 Hausarztsitze für gesetzlich Versicherte sind laut der Kassenärztlichen Bundesvereinigung schon heute unbesetzt.
Willi Grunewald sitzt auf einem Drehstuhl in seiner Arztpraxis in Salzwedel, einer Kleinstadt in Sachsen-Anhalt mit 23.000 Einwohnern. Vor einem Jahr erkrankte Grunewald selbst schwer (woran genau, das möchte er nicht öffentlich machen). Er lebt in einem kleinen Dorf in der Nähe von Salzwedel, nach einer OP empfahl man ihm, Nachkontrollen möglichst bei einem örtlichen Hausarzt durchführen zu lassen. Doch den gibt es nicht in Grunewalds Dorf, und auch in der näheren Umgebung musste er lange suchen. »Da ist mir zum ersten Mal klar geworden, was es bedeutet, wenn man nicht versorgt werden kann«, sagt Grunewald.
Er fand schließlich einen, auch dank der Tatsache, dass der Kassenarzt Grunewald selbst privat versichert ist. Im Laufe seines Berufsleben hat der Internist viele Stationen durchlaufen: Er arbeitete als Chefarzt einer Klinik in Nordrhein-Westfalen, leitete ein Dialysezentrum in Niedersachsen und lehrte als Professor an der Universität Göttingen. Vor einem Jahr dann ging er in Rente.
Er hätte nach seiner Genesung seinen Ruhestand genießen können, doch Grunewald beschloss, etwas gegen den Ärztemangel zu tun. Vor einem Monat eröffnete er seine eigene Landarztpraxis in Salzwedel. Schon vor einigen Jahren hatten seine Frau und er ihr Vermögen in eine gemeinnützige Stiftung gesteckt, sie soll nun auch seine neue Praxis tragen und nach seinem Tod weiterfinanzieren. Der Weg bis hierher aber war holprig.
Grunewald verabschiedet sich von seinen Mitarbeiterinnen, und wir fahren in das 20 Kilometer entfernt liegende Dähre. Hier lebt Grunewald: 1.500 Einwohner nahe der Grenze zu Niedersachsen, es gibt eine Kirche, einen Supermarkt, einen Lotto-Laden und eine Metzgerei, die die DDR-Leberwurst verkauft.
Eigentlich hatte Grunewald vor, in Dähre seine Praxis zu eröffnen. Seit der letzte Hausarzt aus dem Ort weggezogen ist, gibt es hier keinen mehr. In der Region sind derzeit 13,5 Hausarztstellen unbesetzt.
Grunewald steht jetzt in einem frisch sanierten Gebäude auf einem Vierseithof. Es gehört ihm und seiner Frau, hier sollte erst eine Landarztpraxis entstehen und in einigen Jahren ein medizinisches Versorgungszentrum. Er führt durch das Haus: Das frühere Schlafzimmer sollte zum Sprechzimmer umgebaut werden, das Wohnzimmer zum Empfang. Es hätte eine Landarztpraxis wie aus einer Vorabendserie werden können. Grunewald aber scheitert bislang an der Bürokratie. Seit Monaten schlägt er sich mit dem Baurecht herum. »So langsam verliere ich die Lust.«
Derzeit arbeitet er deshalb in angemieteten Räumen. Grunewald will Ärzte anstellen, die die Praxis nach seinem Ausscheiden weiterführen sollen. Denn auch die sinkende Bereitschaft, sich selbstständig zu machen, trägt zum Ärztemangel bei. Es fehle auch an Unternehmerwillen, sagt Antonius Schneider, Direktor des Instituts für Allgemeinmedizin der Technischen Universität München. Die Zahl einzeln geführter Hausarztpraxen in Deutschland ist von gut 30.000 im Jahr 2016 auf rund 25.000 im Jahr 2023 gesunken.
Medizinische Versorgungszentren, an denen Ärzte als Angestellte anheuern können, sind eine mögliche Lösung, um das finanzielle Risiko einer Niederlassung zu reduzieren. Häufig werden sie von Gemeinden oder Stiftungen getragen. Der Nachteil medizinischer Versorgungszentren ist, dass Ärzte oft weniger wirtschaftlich arbeiten, wenn sie angestellt sind, als wenn sie selbst eine Praxis führen, sagt Schneider. »Wenn mir die Praxis gehört, und ich habe zehn Leute im Wartezimmer, die alle Husten, Schnupfen, Heiserkeit haben, dann gebe ich Vollgas, auch weil ich sage: Juhu, für jeden Patienten kann ich einen Schein abrechnen.« Angestellte erlaubten sich eher die Frage: Wie soll ich in einer Stunde zehn Leute behandeln? »Der angestellte Arzt oder die angestellte Ärztin ist an dieser Stelle vielleicht auch kritischer und hat nicht ganz unrecht, denn eigentlich verdienen die Patienten mehr Zeit. Wir müssen raus aus dem Hamsterrad.«
Um den Flickenteppich an Problemen zu beheben, braucht es eine ganze Reihe an Maßnahmen. Es lässt sich die Zahl der Studienplätze an deutschen Universitäten erhöhen, nur würden die fertig ausgebildeten Ärzte erst in über zehn Jahren dem Markt zur Verfügung stehen. Schnell umsetzbar wäre dagegen laut der Bundesärztekammer, finanzielle Anreize für ältere Ärzte wie Willi Grunewald zu schaffen, damit sie länger arbeiten. Ein weiterer Ansatz wäre, die Gesundheitskompetenz der deutschen Bevölkerung zu fördern. Im OECD-Ländervergleich gehen die Deutschen mit durchschnittlich zehnmal im Jahr besonders oft zum Arzt – Schweden etwa gehen nur zweimal. Deutschland könnte außerdem von einem Konzept aus der DDR lernen. In Ostdeutschland gab es früher Gemeindeschwestern, die einen Teil der ärztlichen Aufgaben auf dem Land übernahmen. Um ein solches Modell flächendeckend zu realisieren, müssten mehr Arzthelfer und Pflegekräfte fortgebildet werden. Entsprechende Programme existieren bereits. Weniger Bürokratie, mehr Videosprechstunden und Zuwanderung ausländischer Mediziner sollten nach Ansicht von Experten ebenfalls Teil einer Lösung sein.
Tobias Wittkamp wird all das bei seiner Arztsuche in Thüringen nicht weiterhelfen. Der 40-Jährige, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will, lebt in einer Gemeinde im Südosten des Bundeslandes. Nach dem Tod seiner Hausärztin habe er in der Region nach einer neuen Praxis gesucht und Absagen von 23 Praxen erhalten, berichtet er. Begründung: Sie seien bereits voll, oder er lebe zu weit weg, die wenigen Plätze seien Menschen aus der Gegend vorbehalten. »Man wird allein gelassen«, sagt Wittkamp und meint damit die Politik.
Die Arztsuche habe er inzwischen aufgegeben, sagt Wittkamp. Im Notfall fahre er ins Krankenhaus. Zu Vorsorge- und Routineuntersuchungen gehe er gar nicht mehr.
Quelle: Die Zeit 08/25 von Sophie Neukam – Politik